Deportation: Eine Reise in die Vergangenheit

Georg Hihn und Johann Lauer (beide Jahrgang 1927), zwei ehemalige Deportierte aus Reußen in Siebenbürgen, heute wohnhaft in Deutschland, reisten Ende August 2005 in die Ukraine. Eine Spurensuche, die schmerzvolle Erinnerungen freilegte, wie Johann Lauer im Folgenden schildert. Der Artikel erschien gekürzt in der Siebenbürgischen Zeitung Folge 18 vom 15. November 2005, Seite 24 unter dem Titel: Rückkehr an den Ort der Deportation


Johann Lauer (links) und Georg Hihn. 60 Jahre später am Ort der Deportation: Vor dem Eingang in die Fabrik, wo die beiden Siebenbürger Sachsen von ihrem 17. bis 22. Lebensjahr Zwangsarbeit leisten mussten.

In der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 1945 um Mitternacht kamen in jedes Haus in Reußen, in dem Sachsen wohnten, Männer zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 32 Jahren, rumänische Männer. Mit diesen hatten wir seit dem Jahre 1780 friedlich zusammen gelebt, als sie erstmals in unserem Dorf sesshaft geworden waren. Bewaffnet mit Sensen, Äxten und Mistgabeln, sagten sie den betroffenen Personen, dass sie bis zum nächsten Morgen das Haus nicht mehr verlassen dürften. Sie meinten es hätte keinen Zweck zu fliehen, da das ganze Dorf umstellt sei. Wir sollten uns warme Kleidung anziehen und Verpflegung einpacken, denn wir würden nach Russland deportiert. Zu dieser Zeit hatten die Bauern keine Rucksäcke, geschweige denn Koffer. Meine arme Mutter packte uns, meinem Vater und mir, für jeden in einen Sack ein Brot, Speck, etwas Schmalz, ein paar Bratwürste und Unterwäsche ein. Die ganze Familie weinte und war erschrocken von dieser Horrornachricht.

Im Morgengrauen führten uns unsere Bewacher in den sächsischen Gemeindesaal und übergaben uns den dort wartenden rumänischen und russischen Soldaten. Den ganzen Tag wurde gezählt und nach Entflohenen gesucht. In der Abenddämmerung wurden wir auf die Straße getrieben, jeder mit seinem Bündel auf dem Rücken. Eine junge Frau hatte ihr einjähriges Kind im Arm. Auf der Straße war dicker Schnee, in welchem wir dann wie das Schlachtvieh 6 km bis nach Stolzenburg getrieben wurden. Hier wurden wir in der Staatsschule zu den Stolzenburgern eingesperrt. Da lagen wir nun in den Gängen und in den Klassenzimmern bis am nächsten Tag, wieder in der Abenddämmerung. Tagsüber hatte es geschneit, sodass der Schnee kniehoch war. Geräumt wurde zu der Zeit auch nicht, so mussten wir dann zusammen mit den Stolzenburgern, wieder getrieben wie das Schlachtvieh, jeder mit seinem Bündel auf dem Rücken, durch den kniehohen Schnee 8 km über den Berg bis nach Großscheuern gehen.

Nach dieser Strapaze, verschwitzt in Großscheuern angekommen, waren keine Räume frei, in die wir hätten eingesperrt werden können. So mussten wir 3 Stunden bei eisiger Kälte auf der Straße stehen, bis das sächsische Pfarrhaus geräumt wurde. Dies war schon ein Vorgeschmack auf das was uns erwarten sollte. Am nächsten Tag um die Mittagszeit kamen russische Soldaten mit großen Lastautos und fuhren auf den Bahnhof. Es hatten sich viele alte Leute vor dem Pfarrhaus versammelt und weinten, als sie sahen wie wir auf die Laster, Männer und Frauen gemischt, verfrachtet wurden. Als die Frau, welche ich bereits erwähnt habe, mit ihrem Kind im Arm zum Laster getrieben wurde, entriss ihr ein rumänischer Soldat das Kleinkind aus ihrem Arm, warf es in den Haufen der weinenden alten Leute und schob sie auf den Laster. Der rumänische Soldat gab der Frau keine Gelegenheit ihr Kind noch einmal zu sehen.

Wir kamen in verlauste Viehwagons, je nach Größe 40 bis 80 Personen. In der Mitte des Viehwagons war ein Ofen, allerdings kein Holz oder Kohle. Rechts und links von den Türen waren doppelte Pritschen, aber in dem Wagen in dem ich war, waren wir so viele Personen, dass nicht ein jeder Platz hatte auf einer Pritsche zu liegen. So mussten wir uns abwechseln und stundenlang in der Mitte des Wagons stehen. Außerdem befand sich kein Loch im Boden des Wagons, um unsere Notdurft erledigen zu können. Es dauerte drei Tage bis wir in mühevoller Arbeit mit unseren Taschenmessern ein Loch in den Boden machen konnten. Es gab zwar eine Ritze in der Tür, an der die Männer ihre kleine Not verrichten konnten, doch für die armen Frauen war es eine Qual. Von der großen Not möchte ich lieber nicht erzählen.

Etwas zum Essen hatte jeder noch, jedoch fehlte uns Wasser. Drei Tage und Nächte wurden die Wagons nicht geöffnet. Am vierten Tag waren wir irgendwo auf einem toten Gleis, hier war nur eine Schneewüste zu sehen. Ein eisiger Wind peitschte in die Wagons, welche nun auf einer Seite aufgemacht wurden, es war bis zum Horizont Nichts außer Schnee zu sehen. Aus den geöffneten Wagons mussten alle aussteigen, sich neben die Wagons hinsetzen und versuchen ihre Notdurft zu verrichten. Nun saßen wir da, Männer und Frauen nebeneinander, und versuchten uns zu erleichtern, was bei diesem Anblick wirklich keine Erleichterung war. Als alle wieder in den Wagons waren, bekamen wir zum ersten Mal einen warmen ungesüßten Tee. Dann ging die Reise weiter, am 31. Januar kamen wir spät abends in Dnjepropetrowsk an. Hier wurden wir per Zufallsverfahren in drei Lager verteilt.

Die Reußner kamen in folgende Lager: In das Lager 1416 kamen 18 Männer und drei minderjährige Knaben. In das Lager 1420 kamen 11 Frauen und 18 minderjährige Mädchen. 4 Frauen, 19 minderjährige Mädchen und 7 minderjährige Knaben wurden weiter nach Dnjeproderjinski gebracht. 7 Männer und 3 Frauen sind in mir unbekannte Lager verschleppt worden. Davon waren eine Frau aus Reußen, zwei Frauen aus Hermannstadt und die 7 Männer aus der rumänischen Armee.

Ich kann jetzt nur beschreiben, wie es uns im Lager 1416 ergangen ist. Ich wünschte, es wäre in den anderen Lagern in denen unsere Reußner waren besser gewesen. Ich kann mich nicht überwinden alle unsere Leiden im Detail zu beschreiben. Wie haben bis im Jahre 1947 ohne Strohsack und ohne Decke in fast ungeheizten Baracken geschlafen, wir bekamen drei Mal am Tag eine Gurkensuppe. In dieser Zeit starben von den 18 Reußnern in unserem Lager 8 Männer, 3 Männer wurden schon im Herbst 1945 aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit nach Hause entlassen. 3 Männer wurden 1947 arbeitsunfähig nach Deutschland entlassen, von diesen 3 Männern starb einer auf der Reise und wurde irgendwo in Polen aus dem Wagon geworfen. 2 Männer wurden aus Altersgründen im Jahre 1948 entlassen. 1 Mann und 3 Jungen kamen im Jahre 1949 vor Weihnachten frei und ein Mann erst 1951.

Das niederträchtigste war, dass die Jungen der Jahrgänge 1927 und1928 schon im April 1950, also vier Monate danach, unter dem Vorwand zum Militär zu müssen von den Rumänen wieder zur Zwangsarbeit eingezogen wurden. Wir haben keine Militär Uniform gehabt, sondern nur Arbeitskleider. Wir mussten noch drei lange Jahre jeden Morgen um 5 Uhr morgens aufstehen, eine volle Stunde rechts um, links um und die ganze Abteilung kehrt machen. Danach ging es zu einem spärlichen Frühstück, darauf zum Appell und dann kamen 8 Stunden Zwangsarbeit. Ich war die längste Zeit am Donau- Schwarzen Meer Kanal, bei Porta Albà. Unsere Baracken waren in Sichtweite von den Sträflingen. Beim Appell nach dem Frühstück sagt uns unserer so genannter Kommandant: “Ihr geht jetzt zur Arbeit und wer von euch die vorgeschriebene Arbeitsnorm nicht erfüllt, dem wechsele ich nur die Klamotten und schicke ihn zu den Sträflingen“. Dies war der gesamte Wortschatz, den er wusste.

Vom 28.08. bis 11.09.2005 waren wir, die letzten zwei Reußner aus dem Lager 1416 zwei Wochen in der Ukraine unterwegs, um uns zu erkundigen, wo die sterblichen Überreste von den vielen in Dnjepropetrowsk Verstorbenen ruhen. Von der Stadtverwaltung wurde uns gesagt, dass Friedhöfe in der Stadt in Parks umgewandelt worden wären und die Toten in Sammelgräbern beigesetzt worden seien. Da wir keine Erkennungsmarken hatten, ist es verständlich, dass von denen, die in den Lagern verhungert sind keine Namen auf den Gedenktafeln sein können. Ich war auch beim Vergraben eines jungen Mädchens aus unserem Lager dabei. Es war im Sommer 1947 als ein Leidenskamerad und ich mit der Leiche, die in einem Leintuch eingewickelt war, zum damaligen Friedhof fuhren. Wir schaufelten ein Grab und legten die Tote ohne das Leintuch in welches sie eingewickelt war ins Grab. Das Leintuch mussten wir wieder im Lager abgeben. Obwohl wir in all den Jahren mit Hunger und Tod leben mussten, überkommt mich auch heute noch ein Schauer wenn ich daran denke.

Von der Stadtverwaltung sind wir dann mit einem Taxi zu einer von ihnen beschriebenen Gedenkstätte gefahren. Dort haben wir einen Kranz niedergelegt und im Stillen all derer gedacht, die in so menschenunwürdigen Umständen gestorben sind und begraben wurden.

Auf dem Soldatenfriedhof Sewastopol, welcher an einer Sonnenseite am Rande eines schönen Eichenwaldes liegt und sehr gepflegt ist, haben wir auf der Gedenktafel den Namen von einem Landsmann gefunden, der bei Sewastopol gefallen ist.

Nach dem, was wir in diesen 2 Wochen in der Ukraine erlebt haben, bin ich überzeugt, dass es richtig ist eine Gedenktafel auf dem Reußner Friedhof zu errichten. Auf dieser Gedenktafel sollen alle Namen der Personen, die in der Verschleppung waren und die ihr Leben auf den Schlachtfeldern im 2. Weltkrieg verloren haben, aufgeschrieben sein (Zukunft braucht Herkunft. Beim sechsten Reußener Heimattreffen notiert / Von Hannelore Baier).

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